Schriftarchäologie

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2.6. Archaische Begriffe aus Mesopotamien in der vorgriechischen Buchhaltung

Die 4,3 mal 7,3 cm grosse Tontafel mit der Bezeichnung HT 9a aus Haghia Triada zeigt in der obersten Zeile folgendes Zeichen in Linear A:

HT 9a.1
GORILA I, S. 18

Wer davon ausgeht, dass viele Zeichen der Linear A eng mit den Urbildern der mesopotamischen Keilschrift verwandt sind, wird feststellen, dass es sich bei diesem Zeichen um eine Kombination aus zwei späteren Keilschriftzeichen handeln dürfte:

-> ->
HT 9a.1   LA NI
GORILA I, S. 18   ŠL, S. 929, Nr. 481 ŠL, S. 231, Nr. 75

LA bezeichnete nach Deimel ursprünglich den Waagebalken. NI war nach dem gleichen Gewährsmann ein technischer Begriff in den Listen der III. Dynastie von Ur mit den Bedeutungen "Ertrag, Überschuss" und in der Kombination lal-ni mit der Bedeutung "Rest, Restguthaben" (vgl. ŠL, S. 467, Z. 231/75).

Deimel (ŠL, S.932/60) gibt für die Kombination LA + NI den Begriff la-u = ribâtu "Rest vom Überschuss". Das wird im Yale Syllabary mit "balance due = ausstehendes Guthaben" übersetzt (ŠL, S. 935, 17 und 18).

Als Übersetzung der Zeichenkombination LA + NI aus der Ur-III-Periode gaben Damerow und Englund für die neusumerischen Verwaltungstexte den Begriff "Fehlbetrag" (FRÜHE S. 84).

Labat gibt für LA + NI ebenfalls den akkadischen Begriff "ribâtu" und die Übersetzung "arrierés = Rückstände" (LABAT S. 213).

Wir hätten es also beim Zeichen aus der Titelzeile der Tontafel HT 9a mit dem Begriff "Ausstände, Restguthaben, Fehlbetrag" zu tun.


Auf der gleichen Tontafel ist auf der letzten Zeile zwischen zwei Zahlengruppen folgende häufig vorkommende Zeichenkombination zu sehen:

HT 9a.6 AB 2
GORILA I, S. 18 GORILA

Beim Linear A-Zeichen 81 handelt es sich sehr wahrscheinlich um einen fliegenden Vogel, wie er auch unter den Urbildern der mesopotamischen Keilschrift mit der Bezeichnung NAM gefunden worden ist:

Linear A Sumerisch Sumerisch Sumerisch Neuassyrisch
GORILA V
AB 81
ATU
Nr. 75
ZATU
S. 251, Nr. 383
NAM, SIM
LABAT
S. 74
NAM
ZATU
S. 368
NAM

Deimel wies darauf hin, dass das Urbild des Zeichens NAM ein Vogel gewesen ist, wobei "die andern beigefügten Gunu-Keilchen vielleicht den Vogel als fliegend darstellen" (ŠL S. 181), und dass NAM ein "sehr gebräuchliches, Abstrakta bildendes Nominal-Präfix" war (ŠL S. 182). Auch Labat bestätigte: "NAM sert, en sumérien, à former des abstraits" (LABAT S. 75).

Das Linear A-Zeichen 02 hat bei den mesopotamischen Urbildern der Keilschrift unter der Bezeichnung BAR, MAŠ ebenfalls eine Parallele:

Linear A Sumerisch Sumerisch Akkadisch Neuassyrisch
GORILA V
AB 2
ATU
Nr. 27 Nr. 234
LABAT
S. 69
BAR, MAŠ
LABAT
S. 70
MAŠ
ZATU
S. 368
BAR, MAŠ

Das Keilschriftzeichen MAŠ / ma-aš bedeutet nach Deimel unter anderem sib-tum = Zins, Pachtzins, Ertrag (ŠL S. 157 Nr. 74 / 124). Die Kombination NAM + MAŠ könnte somit den (virtuellen, da noch ausstehenden) Ertrag bedeuten.


Auf der Tontafel HT 100 (GORILA I, S. 164) aus dem kretischen Hagia Triada steht am Anfang der vierten Zeile als eine Art Zwischentitel die Zeichenkombination

AB 31 AB 76

Diese Zeichen entsprechen den in Mesopotamien gefundenen Urbildern der Keilschrift TAR und A, aus denen später die Kombination der Keilschriftzeichen TAR-A entwickelt worden ist:

TAR A = TAR A = ritû
ZATU Nr. 549 ZATU Nr. 1   ŠL Deimel S. 46, Nr. 133  

Für diese keilschriftliche Zeichenkombination finden wir im Sumerischen Lexikon von A. Deimel (S.46, Nr. 133) die Übersetzung "ritû = aufstellen".

Schon A. Falkenstein hat darauf hingewiesen, dass in frühen Schriften das Bild eines Pfluges zunächst diesen Gegenstand bezeichnete, dass es aber auch "pflügen" oder sogar "Pflüger" heissen konnte, obwohl es dafür auch noch ein anderes Wort gegeben habe (ATU S. 31). Im § 47 ihrer Einführung in die grammatikalische Struktur der sumerischen Sprache belegt Marie-Louise Thomsen, dass Hauptwörter morphologisch nicht von Adjektiven oder Verben unterschieden worden sind Anm. 1.

Wir dürfen deshalb davon ausgehen, dass "ritû = aufstellen" als "Zwischentitel" auch "Aufstellung" bedeutet hat.

Anm. 1: The Sumerian Language, Marie-Louise Thomsen, Akademisk Forlag, Copenhagen 1984, S. 55


Hans Glarner, CH 8702 Zollikon Diese Seite (www.schriftarchaeologie.ch/gruppen_2_6.php) wurde aktualisiert: 01.10.09

Hans A. Glarner
CH 8702 Zollikon

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